Neue Ideen für mehr Fairness beim Streaming
Bei der letztjährigen Waves Conference hatte der VTMÖ bereits nach der Fairness bei den Streaming-Entgelten gefragt. Das Thema bleibt aktuell, ein neuer Vorschlag aus UK namens „Artist Growth Model“ stand im Mittelpunkt des heurigen VTMÖ-Panels.
Fair Music - The Artist Growth Model
WAVES CONFERENCE
10.9.2021, 10:45 - 11:30
WUK Conference Room 2 oder im Live Stream
Es diskutierten:
- Christina Bachler, Musikerin und Aktivistin aus Wien mit Masterabschluss in Musikmanagement
- Michelle Escoffery, Singer/Songwriter, Brit Award Preisträgerin und Präsidentin des Member Councils der britischen Verwertungsgesellschaft PRS
- Paul Pacifico, Geschäftsführer des britischen Indie-Verbandes AIM
- Moderation: Alexander Hirschenhauser, VTMÖ - Sprecher des Leitungsteams
Hier geht es zum aufgezeichneten Live Stream!
Die Bedeutung der über Streaming-Plattformen erzielten Einnahmen aus Musikproduktionen steigt von Jahr zu Jahr und ganz speziell während der Pandemie hat diese Entwicklung nochmals an Geschwindigkeit gewonnen. Nach Abzug von Steuern und den Anteilen der Plattformen werden heuer bereits mehr als € 10 Mrd. an Labels und Urheber ausbezahlt werden. Es ist also kein Wunder, dass die Verteilung dieser Beträge heftig diskutiert wird.
Wer bekommt wieviel?
Diese Frage erhitzte zuletzt die Gemüter, weil manche Artists von ihren Labels gar nicht oder zu wenig an den Streaming-Einnahmen beteiligt werden. Auch Studiomusikerinnen und -musiker wollen garantierte Anteile an den Einnahmen, speziell wenn eine Aufnahme zum Hit wird und die Leistungen im Studio bloß mit einer kleinen Fix-Gage abgegolten wurden. Dabei geht es im Wesentlichen um vertragsrechtliche Fragen, die hier nicht im Mittelpunkt stehen – geht es bei dieser Fachdiskussion doch um den Anteil der Top-Hits am Kuchen und um neue Ideen, die Vielfalt des Musikschaffens in den Nischen zu fördern.
The Winner Takes It All
Unter den aktuell benutzten Abrechnungssystemen fließen 80% der Streaming-Einnahmen bloß an die Top 1% der zur Verfügung stehenden Songs. Dies entspricht dem in vielen Bereichen der Online Economy beobachteten Prinzip, wonach das Internet die Großen noch größer macht, den ganz Kleinen zumindest günstige Möglichkeiten für theoretische Auffindbarkeit bietet, den „Mittelbau“ aber kaum Chancen zur erfolgreichen Entwicklung lässt.
Robin Hood hätte seine Freude
Das kürzlich vom britischen Indie-Label-Verband AIM in London vorgestellte „Artist Growth Model“ orientiert sich ein wenig an Robin Hood: Nimm etwas von den Reichen und verteile es unter den Armen. Der Gedanke ist, bei den erfolgreichsten Songs einen kleinen Anteil abzuziehen und diesen unter den weniger erfolgreichen zu verteilen. Gefördert werden sollen damit professionelle Musikprojekte – also jene, die von ihrer Musik leben können sollten. In einer zehnstufigen Skala könnten z.B. die obersten zwei Stufen an die folgenden vier Stufen etwas abgeben.
Neues ermöglichen, Vielfalt fördern
Es geht um den „Mittelbau“ – also um Artists, die bereits am Weg zum Erfolg sind und großes Potential haben, aber mit ihrer Musik noch nicht ihr Leben finanzieren können. Eigentlich sollten sie all ihre Zeit und Energie in die Realisierung dieses Potentials investieren, können dies aber oft nicht, weil sie zum Überleben einer anderen Beschäftigung nachgehen müssen. Das Verteilungsmodell soll einer größeren Zahl von Newcomer- sowie Nischen-Artists ein Einkommen ermöglichen, das ein Leben jenseits der Armutsgrenze erlaubt.
Doch nicht nur junge Musikerinnen und Musiker würden profitieren: Das vorgeschlagene Modell soll das Risiko beim Investieren in neue Musikprojekte verringern und damit mehr Chancen für Vielfalt und Nischen bringen. Vielfalt ist aber nicht nur ein Wert für sich. Auch das Publikum profitiert, wenn das musikalische Angebot vielfältiger wird.
Je komplizierter, desto weniger transparent
Es gibt aber auch Kritik: Je komplizierter das Abrechnungsmodell, desto schwerer verständlich ist es und mangelnde Transparenz würde Misstrauen befeuern. Schließlich wird von vielen betont, dass andere Verbesserungen der Abrechnungssysteme noch wichtiger für die Steigerung der Fairness wären. So etwa mehrere Zählpunkten pro Song, denn derzeit lukriert ein Zwei-Minuten-Songhäppchen pro Stream den gleichen Betrag wie ein halbstündiges Epos. Manche wollen auch von UserInnen aktiv ausgewählte Songs höher entgelten als Musik, die im Rahmen von Playlists konsumiert wurde. Alles in allem würden die Abrechnungsalgorithmen um einiges komplexer werden, was in Summe der Transparenz schaden könnte.
Mit „User centric“ kombinierbar?
Während der britische Indie-Verband AIM Vorbehalte anmeldet, fordern die Indie Labels vieler anderer Länder (in Österreich vertreten durch den VTMÖ) weiterhin die Umstellung auf die „User centric“ Abrechnungsmethode – also Abrechnungen, die den von einem Useraccount bezahlten Monatsbetrag genau auf jene Songs aufteilt, die von jenem konkreten Account im Abrechnungsmonat gehört wurden. Die Annahme ist, dass auch diese Umstellung mehr Fairness und größere Chancen für vielfältige Nischen im Musikschaffen brächte.
Während die Umstellung vom aktuell praktizierten Basismodell der „pro Rata“ Abrechnungen auf „User centric“ ein „entweder – oder“ wäre, ließen sich alle anderen Ideen inklusive des „Artist Growth Model“ problemlos mit beiden Basismodellen kombinieren. Bloß der Grad an Komplexität würde eben zunehmen – mit den bereits erwähnten Herausforderungen und Nebenwirkungen.