Fair Streaming?
Wie fair funktioniert die Verteilung der Streaming-Einnahmen durch die Plattformen? Mit dieser Frage beschäftigte sich eine vom VTMÖ zusammengestellte Diskussionsrunde bei der WAVES CONFERENCE im September 2020 im Wiener SAE-Institut.
Am Podium bzw. Online zugeschalten:
- Dr.in Birte Wiemann, VUT-Vorstandsmitglied und Digitalmanagerin bei Cargo Records (DE, onine in Wuppertal)
- Dipl Ing.in Nermina Mumic BSc, CEO des bei der MIDEM 2019 preisgekrönten Datenanalysedienstes Legitary (AT)
- Anton Gourman, Global Director of Communications beim Streamingportal Deezer (UK, online in London)
- Moderation: Alexander Hirschenhauser, Sprecher des VTMÖ-Leitungsteams (AT)
Die Diskussion fand als Hybrid-Event statt: ca. 20 persönlich vor Ort Anwesende plus bis zu 1.850 Personen online beim Live-Stream.
Es geht um viel
Das Thema ist komplex, es geht um die Verarbeitung von enormen Datenmengen und darum, wie die Einnahmen der Online-Dienste den einzelnen Berechtigten zugeteilt werden. Für einen gestreamten Song sind dies zwar bloß Mikrocents, doch insgesamt werden die Streaming-Dienste im Jahr 2020 weltweit ca. € 14,5 Mrd. einnehmen. Wenn wir den Anteil der Plattformen selbst abziehen, bleiben nahezu € 10 Mrd. zu verteilen – es geht also um große Summen und das Streaminggeschäft entwickelt sich immer mehr zur wichtigsten Einnahmequelle bei Tonaufnahmen.
Derzeit alles „pro rata“
Die aktuell von allen Plattformen praktizierte Methode nennt sich „pro rata“. Dabei werden alle in einem Land generierten Einnahmen (Abogebühren plus Werbeeinnahmen) aufsummiert und dann durch die Gesamtanzahl aller in diesem Land abgerufenen Streams dividiert. Dabei wird ein Zählpunkt bei 30 Sekunden herangezogen, ein Song muss also zumindest 30 Sekunden lang gehört worden sein, um gezählt zu werden.
Bei dieser Methode werden also alle Streams gleich gewertet, egal ob
- der Song 2 Minuten 30 Sekunden lang ist oder ein 20 Minuten langes Epos gehört wurde
- die User einen Gratis-Zugang genutzt haben und bloß kleine Werbeeinnahmen zur Verteilung kommen
- oder über voll zahlende Premium Accounts verfügen
- oder einen vergünstigten Student’s Account genutzt haben
- oder gar einen Family Account genutzt haben, wo bis zu 6 in einem Haushalt lebende Personen für das Entgelt von 1,5 Vollzahlenden so viel Musik hören können, wie sie wollen.
Alternative „user centric“
Immer öfter wird das „pro rata“ Modell kritisch diskutiert und meist kommt dann die alternative Methode „user centric“ ins Spiel. Dabei wird genau jener Betrag aufgeteilt, den ein Account bezahlt oder generiert hat – und zwar genau auf jene Songs, die über diesen Account gestreamt wurden. Bei dieser Methode sind also nicht alle Streams gleich viel wert. Kontroversiell diskutiert wird auch die Frage, was mit den Einnahmen passiert, wenn ein Account in einem Monat mal gänzlich inaktiv war.
Reicht ein Zählpunkt pro Song?
Unabhängig davon, ob „pro rata“ oder „user centric“: Es geht auch um die Länge der Songs. Derzeit liegt der einzige für die Einnahmen relevante Zählpunkt bei 30 Sekunden. Sind die erreicht, gibt es Cash. Damit generiert ein Account, der eine Stunde lang Drei-Minuten-Songs hört, 20 auszahlbare Streams, während bei einer Stunde mit drei Zwanzig-Minuten-Tracks bloß dreimal die Kasse klingelt. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass bei Audiobooks im Hintergrund meist nach jedem Absatz ein neuer „Track“ startet – unhörbar, aber relevant für die Abrechnung.
Fake Accounts und Missbrauch
Die Plattformen sprechen zwar nicht gerne darüber, doch das „Geschäftsmodell“ liegt auf der Hand: Man generiere eine Playlist mit Songs, für die man die Rechte besitzt. Man lege eine beliebige Anzahl Fake Accounts an und lasse diese rund um die Uhr einen Monat lang immer bloß diese Playlist streamen. Der Gambling-Faktor ist größer, wenn es Premium Accounts sind. Der Gewinn kann sich sehen lassen.
Nun ist es nicht so, dass die Plattformen tatenlos zusehen – speziell, seit international immer mehr darüber diskutiert wird. Es gibt mittlerweile Algorithmen, die solche Fake Accounts erkennen und diese werden deaktiviert. Doch wie in allen kriminellen Disziplinen entwickelt sich ein Technologie-Match zwischen Räubern und Gendarmen. Meist sind die Räuber einen Schritt voraus…
Gewinner und Verlierer
Nicht ganz einig sind sich die Fachleute darüber, wer bei einem Systemwechsel gewinnen und wer verlieren würde. Klar ist jedenfalls, dass Musikgenres mit tendenziell längeren Tracks besser abschneiden würden, wenn es mehrere Zählpunkte in regelmäßigen Abständen der Laufzeit gäbe – allen voran Klassik, Jazz und Electronica. Klar ist auch, dass beim Missbrauch des Systems die möglichen Gewinne massiv kleiner würden, zumal Fake Premium Accounts mit vielfacher Hebelwirkung nutzlos wären. Die Räuber würden also zu den Verlierern zählen. Auch die aus wirtschaftlichen Überlegungen immer häufiger veröffentlichten Songs mit einer Spieldauer unter zweieinhalb Minuten würden wohl weniger attraktiv für die Ertragsoptimierung werden – Freundinnen und Freunde kulturell hochwertiger Produktionen würden sich sehr freuen.
Vermutet wird, dass bei einem Wechsel zu „user centric“ jene Genres verlieren würden, die von sehr jungen Leuten beim Chillen dauergestreamt werden – allem voran wohl Hip Hop. Musikstile, die von Erwachsenen mit Premium Accounts bevorzugt werden, würden hingegen tendenziell gewinnen. Auch die Debatten über die Verteilungsfairness zwischen Musiksongs, Audiobooks und Podcasts wären dann wohl weniger heftig. Auch erhöhtes Vertrauen von Nutzerinnen und Nutzern ist zu erwarten, wenn einsehbar ist, wohin genau die eigenen Beiträge ins System fließen – Vertrauen darauf, dass die eigenen Zahlungen jenen Artists zugutekommen, die man gerne hört. Dies könnte zusätzliche Premium Accounts bringen und damit zusätzliche Einnahmen für alle.
Sowohl unter den Plattformen als auch bei den großen Labels hält man sich jedenfalls tendenziell bedeckt und wartet offiziell ab. Nicht so bei Deezer: Dieser Streamingdienst würde lieber heute als morgen zu „user centric“ wechseln und in Frankreich (Deezer’s wichtigstem Markt) denkt die Regierung sogar darüber nach, eine entsprechende gesetzliche Regelung einzuführen. Und die Indie-Labels? Sowohl VTMÖ in Österreich als auch VUT in Deutschland bekennen sich klar zu „user centric“ und regelmäßigen Zählpunkten – wegen der Fairness warat’s g’wesen.